Wo ist die Lobby für die Gastronomie?

Michelberger / Die Gemeinschaft

Ein Gespräch mit Tom und Nadine Michelberger vom Michelberger und Friederike Gaedke von Die Gemeinschaft über die fehlende Wertschätzung für die Gastronomie und neue Chancen der Zusammenarbeit in Zeiten von Corona.

Die Gemeinschaft ist ein Berliner Netzwerk von handwerklichen Lebensmittelproduzent*innen, Gastronom*innen und Köch*innen, Friederike Gaedke die Leiterin des Vereins. Das Michelberger ist ein sich ständig weiter entwickelndes modernes Familienunternehmen, ein Hotel, Restaurant und Treffpunkt – gegründet von Nadine und Tom Michelberger. Gemeinsam engagieren sie sich mit dem BerlinFoodKollektiv für die Berliner Gastronomie und die Vielzahl von Menschen und Berufen, die durch das Ökosystem Gastronomie beschäftigt werden.

Markthalle Neun: Wie geht es der Gastronomie zur Zeit? Wir haben bereits viele kreative neue Modelle, Lieferdienste, Pop Up und Pick Up Ideen gesehen. Aber was beschäftigt die Gastronomie jetzt, ein paar Wochen später in der Krise?

Friederike: Die größte Herausforderung ist zur Zeit der zeitliche Aspekt. Ja, es gibt gott sei Dank Förderprogramme und das Kurzarbeitergeld, aber was jetzt gerade an die Substanz geht, ist dass sich die Ausnahmesituation so lange hinzieht. Viele andere Betriebe und Läden dürfen langsam wieder aufmachen, aber die Gastronomie musste als erstes schließen und wird als letzte wieder öffnen dürfen. Diese Perspektivlosigkeit ist eine große Herausforderung.

Nicht nur in Deutschland, auch international merkt man gerade – inhabergeführte Läden sind jetzt im Vorteil, sie können jetzt agiler und flexibler reagieren. Wie auch in der Permakultur merkt man hier: Diversität ist der Schlüssel zur Resistenz! Je mehr Verkaufskanäle man hat, je breiter man aufgestellt ist, je kreativer man sein kann, desto resistenter ist man auch. Und es ist wichtig, dass genau diese Unternehmen jetzt gerettet und gefördert werden, damit es mehr von solchen Modellen in der Zukunft gibt. Das sind oft auch die Unternehmen, die versuchen ihre MitarbeiterInnen zu halten, sich kreative Wege und Möglichkeiten ausdenken, diese einzubinden. Aber auch das ist natürlich auf die Dauer immer schwieriger, je länger sich diese Situation zieht.

Tom: Das kann ich nur unterstützen. diese Unternehmen sind unser gesellschaftliches Rückgrat, aber überhaupt nicht öffentlich so angesehen, respektiert oder vertreten.

Wir sind schlicht nicht repräsentiert in dem Ausmaß, in dem es eigentlich gerechtfertigt wäre. In der Gastronomie haben wir bundesweit 2,4 Millionen offiziell sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, wir haben 3% Bruttoinlandsprodukt – die Automobilindustrie hat nur 1% mehr, aber eine viel krassere Lobby.

Friederike: Da kommen wir wieder zu unserem Grundthema: Der fehlenden Wertschätzung für die Gastronomie! Für das Handwerk, das dahinter steht, die Menschen und die Esskultur, die von der Gastronomie geprägt wird.

Nadine: Aber wie konnte es so weit kommen? Wir dürfen jetzt auch nicht nur in eine Beschwerde-Haltung fallen und uns beklagen, sondern müssen diese Kraft umformen in Veränderungsvorschläge, Konzepte und Lösungen. Viele Ideen sind bereits da, sind bereits entwickelt, vorgearbeitet und formuliert. Jetzt müssen wir da ansetzen und überlegen: wie können wir daraus einen Wandel schaffen?

Markthalle Neun: Die Idee von “Die Gemeinschaft” ist es ein Netzwerk und eine Kommunikation aufzubauen zwischen Gastronomie, Landwirtschaft und Lebensmittelhandwerk. Ist das jetzt wichtiger denn je?

Friederike: Ja, ich spüre gerade einen großen Bedarf für Kommunikation und auch für die persönliche Beziehungen in diesem Netzwerk, das war vorher nicht so extrem. Viele helfen sich zur Zeit untereinander und tauschen sich aus. Zum Beispiel fehlt einer Gastronomin gerade das Mehl, da hilft es natürlich den persönlichen Kontakt zu einem Produzenten zu haben, wenn der Großhandel plötzlich nicht mehr liefern kann. Da merkt man die Vorteile eines starken und resistenten Netzwerks und dem direkten Draht zu ProduzentInnen!

Markthalle Neun: Bereits nach wenigen Wochen habt ihr den Austausch mit KollegInnen gesucht, aus der Gastronomie, aber auch der Landwirtschaft und dem Handel. Ihr trefft euch regelmäßig und sprecht gemeinsam über den Umgang mit der aktuellen Situation. Woher kam dieser Impuls sich so schnell nach außen zu wenden und als Gemeinschaft zusammen zu tun?

Nadine: Ende März haben wir einen offenen Brief an viele Berliner GastronomInnen und Menschen aus der Lebensmittelbranche geschrieben – mit Fragestellungen und Themen, die uns konstant begleiten: Die Verbindung von Handelsketten und der Landwirtschaft, die Nachhaltigkeit, die wir eigentlich sehen wollen, faire Bezahlung für MitarbeiterInnen, Unternehmensstrukturen.

Aber wir waren doch auch eher in unserem Kosmos unterwegs, aber durch die Entwicklungen in den letzten Wochen ist jetzt der Moment gekommen, diese Dinge miteinander zu verknüpfen und gemeinsam zu besprechen und umzusetzen.

Tom: Es war ein Impuls mit der Frage: Wie können wir jetzt aktiv vorgehen? Wie können wir uns selbstverantwortlich aufstellen und unsere Strukturen verbessern? Wie können wir Gastronomie und Landwirtschaft wieder in einen anderen Fokus rücken? Seit über zwanzig, dreißig Jahren werden wir in diesen Bereichen gesellschaftlich so wenig berücksichtigt – Autohäuser und Friseure sind wichtiger als ein sozialer Treffpunkt. Die Gastronomie steht im Mittelpunkt von einer Kette, die wahnsinnig bedeutend ist: Sie vertritt unglaubliche viele Menschen und ihre harte Arbeit — vom Bauern bis zum Spüler, all die, die hart arbeiten, bis ein Gericht auf einem Teller landet.

Nadine: Genau, und wir wollen diesen Moment nutzen, um den Blick auf die Ursachen zu bringen und weniger an der Oberfläche der Symptomatik rumzuschüren. Wir müssen uns fragen: Wie konnte es so weit kommen, dass wir so angreifbar sind von etwas wie einem Virus? Warum sind unsere Immunsysteme als Weltgemeinschaft so platt?

Eigentlich ist der Virus ist nicht das Problem, es ist die Immunreaktion!

Und das bringt uns ja zu den Fragen: Woher kommt unser Essen? Wie wird es hergestellt? Warum sind da keine Mineralien drin, warum macht uns unser Essen nicht gesund und stärkt unsere Selbstheilungskräfte?

Tom: Ja und wir müssen jetzt schauen: Wie können wir nicht nur als Industrie, sondern auch als Menschen für so etwas resistenter sein und was können wir mit einem physischen Ort mit unserem Hotel und unserem Restaurant für einen Beitrag leisten? Weil wir an einer Schnittstellen sind – zu unseren Gästen und unseren Zulieferern, zu KöchInnen, Verwertern.

Friederike: Das (schwache) Immunsystem des Menschen ist hier wirklich eine gute Metapher für das Lebensmittelsystem – ein System mit sehr geringen Margen und Liquidität und Ausbeutung billiger Arbeitskräfte (siehe ErntehelferInnen). All diese Missstände im System kommen jetzt gerade zum Vorschein – und werden auch von VerbraucherInnen wahrgenommen.

Markthalle Neun: Es ist schön zu sehen, dass durch die Krise viele in der Berliner Lebensmittelszene zusammenrücken und zusammenarbeiten.

Friederike:Dass das möglich und gewollt ist, ist aber auch etwas Berlin-spezifisches. Es ist eine verhältnismäßig kleine und persönliche Szene mit Orten, die nicht generations-vorbelastet sind und zum Großteil noch inhabergeführt sind. In anderen internationalen Großstädten sieht das ganz anders aus – dort ist die Gastronomie oft von Ketten und Investoren geprägt und KöchInnen sind nur Marionetten für ein Konzept. Das ist in Berlin nicht so, hier kennen sich viele untereinander, halten zusammen und haben auch einen Willen, sich für einen Wandel einzusetzen. Berlins Gastronomie ist noch sehr authentisch und transparent und hat die Möglichkeit als Gemeinschaft aufzutreten, genau dieses Potenzial sieht man gerade.

Markthalle Neun: Gemeinsam ist man stärker – gilt das auch für Forderungen an die Politik?

Friederike: Ja, beziehungsweise ist unser Ansatz eigentlich, dass wir uns nicht nur mit Forderungen auf die Politik stürzen wollen, sondern als Gemeinschaft die Kraft haben Alternativen umzusetzen – ohne auf die Politik zu warten.

Tom: Die Zeit zu betteln und zu hoffen, dass einem zugehört wird, ist vorbei, sondern wir müssen uns jetzt an die Tische setzen. Gewisse Dinge werden von der Politik einfach nicht verstanden, vieles hängt in einer anderen Generation fest – die bekommen gar nicht mit, was in der Gastronomie der letzten 10 Jahre passiert ist. Wir müssen jetzt eigenständig und unabhängig Dinge aufbauen. Und genau das ist in Berlin noch (unabhängig) möglich – wir haben noch die Räume und die selbstbestimmten Unternehmer. Wir wollen jetzt, kollektiver denn je, alternative Projekte umsetzen. Dann hat die Politik etwas an der Hand, mit dem sie arbeiten können.

Nadine: Und in Berlin wird schon seit vielen Jahren an verschiedenen Enden an Lösungen gearbeitet. Es gilt jetzt einfach, diese Ideen, Lösungen und Kräfte zu bündeln und gemeinsam Konzepte zu entwickeln. Konzepte, die dann niemand mehr ablehnen kann, weil sie einfach Sinn ergeben, die Nachfrage bedienen und ökonomisch effizienter sind. Mit dem Ziel gutes, gesundes Essen für Berlin zu ermöglichen, auch in der Gemeinschaftsversorgung.

Markthalle Neun: Welche Chancen seht ihr jetzt in dieser Krise für die Lebensmittelwelt? Wie plant ihr die gemeinsam erarbeiteten Fragestellungen und Ideen umsetzen?

Tom: Die Chance ist nur limitiert durch unsere eigenen Fähigkeiten uns zu organisieren. Das ist schon immer das Thema – viele der Ideen über die wir jetzt diskutieren sind nicht neu. Jetzt ist eine Öffnung da, durch die Digitalisierung kann auch ein globaler Austausch stattfinden. Die Frage ist nur: Sind wir jetzt in der Lage gewisse Ideen, Menschen und Bereiche zusammen zu führen und Dinge anzustoßen?

Auch gemeinsam mit LandwirtInnen, VerarbeiterInnen und anderen aus der Lebensmittelbranche überlegen wir: Können wir unsere unterschiedlichen unternehmerischen und sozialen Einheiten so verknüpfen, dass daraus ein System entsteht, ein Alternativvorschlag, wie es auch gehen kann. Ein alternatives System, ein Beispiel in unserem Berliner Mikrokosmos, das dann aber vielleicht andere inspiriert und skaliert werden kann.

Friederike: Ja. Als Gemeinschaft wollen wir gerade jetzt auch als Plattform dienen für diese Gespräche und Diskussionen. Gerade jetzt ist es wichtig, verschiedene Menschen aus der Lebensmittelwelt an einen Tisch zu bringen und an diesen Themen weiter zu arbeiten – egal ob an einem digitalen Tisch oder einem richtigen.

Markthalle Neun: Erlebt ihr in den letzten Wochen eine Veränderung im Bewusstsein für Lebensmittelthemen?

Nadine: Es besteht gerade eine große Chance, durch mehr Kommunikation auf die Situation der Gastronomie aufmerksam zu machen und für eine größere Wertschätzung zu sorgen. Wenn ich mehr Informationen habe und mehr Verständnis, kann ich Situationen ganz anders einschätzen und auch andere (Einkaufs-)Entscheidungen fällen. Und alltägliche, persönliche Entscheidungen haben eine Kraft in unserem (Lebensmittel-)System.

Tom: Veränderung beginnt meistens, wenn man eine Frage hat. Jetzt haben gerade sehr viele Leute Fragen und sind auf der Suche nach Antworten. Da ist jetzt die Chance Missstände aufzuzeigen und Alternativen anzubieten. Normalerweise sind wir alle gefangen in unserem Laufrad, unserem System und Alltag, da kommen nicht so viele Fragen auf wie zur Zeit.

Friederike: Schon jetzt sehen wir eine gesteigerte Wertschätzung der Gastronomie durch KonsumentInnen, viele versuchen Restaurants und Cafés zu unterstützen. Und viele überdenken auch unsere Lieferketten – plötzlich merkt man, dass ein Produkt wie Mehl nicht endlos zur Verfügung steht und wie durch Zauberhand in den Supermarktregalen liegt, sondern dass da eine Kette, Menschen, ein System dahinter steht.

Tom: Und das ist eben ein wahnsinnige Erfahrung, die gerade alle mitmachen!

Friederike: Ja! Eine Erfahrung, die unsere Generation noch nicht mitgemacht hat. Die Generation meiner Großeltern kennen Knappheit aus dem Krieg, die Notwendigkeit sich selbst zu versorgen und auch selbst Obst & Gemüse anzubauen – für uns ist das neu.

Und auch zum Thema Klimakrise eine wichtige Erfahrung: Viele haben jetzt die Erkenntnis, dass unser Lebensmittelsystem komplex und essentiell ist und vor allem alle betrifft.

Nadine: Aber wir müssen auch schauen, dass es keinen Verpuffungseffekt gibt, sondern dass wir jetzt diese Lücke schließen mit Informationen, mit Bildern, Geschichten, Forderungen und Wünschen für Veränderung im System. Wir müssen es schaffen aus diesem Moment etwas Langfristiges zu machen. Dazu wollen wir gemeinschaftlich einen Beitrag leisten.

Friederike: Ich glaube es ist auch ein spannender Moment für die Gastronomie, weil vieles hinterfragt werden muss. Viele Konzepte und Modelle der letzten Jahre sind zum Stillstand gebracht und das bietet die Möglichkeit zu fragen: wie sieht die Zukunft der Gastronomie aus?

Nadine: Wir arbeiten jetzt nur an Themen in den Bereichen Gastronomie, Lebensmittelhandwerk und Landwirtschaft, aber ich hoffe, dass es auch andere Tische und Gemeinschaften gibt, die an Alternativen für ihre Bereiche arbeiten. Alternativen, die logisch und attraktiv sind, sodass es Menschen leicht macht sich dafür zu entscheiden, anstatt zurück zu gehen.

Tom: Ich glaube, wir brauchen generell andere Einladungen. Alternativen, die logisch und attraktiv sind.

Nadine: Genau daran wollen wir weiter arbeiten. Und damit kann es einem ja nur gut gehen, denn wenn nur ein kleiner Prozentsatz dazu beiträgt, dass sich etwas Positiv verändert, dann macht das wirklich Freude.