Begegnungen über den Tellerrand hinaus

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Erinnern wir uns an unsere letzte Einladung zum Abendessen in großer Runde. Wohnzimmer: leer. Esszimmer: leer. Die noch so kleinste Küche: voller Leben. Menschen fühlen sich vom Küchentreiben angezogen wie die Motten vom Licht. Es wird beim Schnibbeln geholfen oder schon mal ein Blick in die Töpfe und auf die Teller gewagt. Gespräche entstehen und Fremdheit schwindet, denn die Vertrautheit der Küche lässt unbeschwertes Kennenlernen zu. Die Küche schafft es immer wieder uns zusammenzubringen und ermöglicht uns im besten Fall sogar einen Blick über den Tellerrand hinaus. Was nun, wenn eine Küche im öffentlichen Raum steht und zum gemeinsamen Kochen einlädt?

Ute und Ina Peppersack haben den Braten gerochen und kurzum eine Küche auf Rädern gebaut. Die heißt Bella und tourt seit Anfang Juni 2023 durch Deutschland. Ihre erste Station hat sie bei uns an der Markthalle Neun gemacht und über vier Wochen Raum für zahlreiche Begegnungs- und Kochevents geschaffen. In den kommenden zwei Monaten geht es dann weiter nach München und Köln. Der Verein Über den Tellerrand (ÜDT), mit dem das Bella-Projekt zusammen gestaltet wird, nutzt seit 2013 Kochen als Türöffner zwischen Kulturen und setzt sich für ein gelebtes Miteinander ein. Seit 2014 dürfen wir ÜDT regelmäßig bei uns in der Halle willkommen heißen.

Und so auch heute, wenn auch nur auf ein Getränk und ein Gespräch: Vor der Halle treffe ich die beiden Schwestern zusammen mit Tarek Elmasoudi und wir sprechen über die lange Freundschaft zwischen “Über den Tellerrand” und der Markthalle Neun, die Entstehung des Bella-Projekts und die Kraft des gemeinsamen Kochens und Essens.

Auf bunten Stühlen lassen wir uns vor der Kantine Zukunft auf der Eisenbahnstraße nieder. Dass Ina und Ute Geschwister sind, verrät nicht nur ihr Äußeres. Die beiden strotzen nur so vor Tatendrang und benötigen keine Einstiegsfrage, um ins Gespräch zu starten.

Ina ist seit 2015 beim Verein und hat, wie sie sagt, schon fast jeden Job bei ÜDT gemacht.

“Wir machen ständig Witze im Verein, dass man immer wieder zurückkommt. Gestern, als ich die Schürzen gewaschen habe, dachte ich mir: Die hast Du nicht zum ersten Mal in der Hand.” Eines ihrer ersten Projekte, erzählt sie, war der “Kitchen on the Run”-Küchencontainer, der jeweils sieben Wochen lang, vor allem in deutschen Kleinstädten unterwegs war und zum gemeinsamen Kochen, Essen und Kennenlernen einlud. “In Kleinstädten und im ländlichen Raum fehlen oft Orte, die unbesetzt sind. Da gibt es häufig Vereins- oder Pfarrräume, aber es fehlen offene, neutrale Räume, in denen Menschen sich unvoreingenommen begegnen können. Der Container wurde also sehr dankend angenommen, schade war nur, dass er nach sieben Wochen wieder weg war… Und da kommst Du eigentlich ins Spiel, Ute!”

Ute ist Fotografin und Industriedesignerin. Während des Studiums begleitete sie Ina häufig bei ÜDT-Projekten. Aus dieser Zeit hat sie die Herausforderung gesehen, den positiven Nutzen dieser Küchen als Begegnungsort langfristig, niedrigschwellig und kostengünstig für Gemeinschaften verfügbar zu machen. “Und wann findet man schon die Zeit, sowas zu gestalten, wenn nicht im universitären Rahmen? Also habe ich mich in meiner Bachelor- und Masterarbeit dem Thema zugewandt.” Entstanden ist zunächst die nachbaubare Handwagenküche “Bolle”, die erweiterte und mobilere Version ist die Fahrradküche “Bella”. Bella bietet eine große Kochinsel mit Gasherd und Ofen, auf der mehr als zwölf Personen Platz finden. Ihre Konstruktion basiert auf einem robusten Aluminiumskelett, während die Wände und Arbeitsflächen aus Upcycling-Materialien gefertigt sind. Damit ist Bella nicht nur funktional, sondern auch nachhaltig im Design. Die Pläne dazu sind per “Open-Source” verfügbar, können also kostenfrei für gemeinnützige Zwecke nachgebaut und genutzt werden. Ute erzählt, dass das Design von Bella nicht bei der bloßen Konstruktion aufhört:

“Schon während der Konzeption haben wir überlegt, wie das Projekt wechselwirksam sowohl den Verein, als auch den lokalen Gemeinschaften und Organisationen zugutekommen kann. Interkulturalität und Essen funktionieren im Verein schon wahnsinnig gut. Was ist, wenn wir Menschen im öffentlichen Raum dazu einladen, anders über Essen nachzudenken? Wie bringen wir weitere Themen in die Kochveranstaltungen: regenerative Landwirtschaft, lokale Wertschöpfung, pflanzliche Ernährung, aber auch die engere Zusammenarbeit mit Produzierenden und Landwirt*innen. In Köln zum Beispiel wird es Kochveranstaltungen auf dem Hof von Linus Beste oder mit Zero-Waste-Organisationen geben. Im besten Fall wird das Beste aus den Resourcen der lokalen ÜDT-Communities rausgeholt, aber auch Netzwerke über den Verein hinaus gestärkt.”

Tarek ist seit zwei Jahren dabei und kennt sich bestens mit den Strukturen des Vereins aus. “Die große Stärke des Vereins sind die einzelnen Mitglieder und Unterstützenden. Die gesamte Arbeit speist sich aus den vielfältigen Fähigkeiten, Interessen und Hintergründen… und natürlich der schier endlosen Motivation unserer "Champions", der Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren.” Bei ÜDT kümmert sich Tarek um die über 200 Ehrenamtlichen in Berlin. Wenn sich jemand für den Verein oder die Mitarbeit interessiert, dann gibt es ein Erstgespräch. “Da schauen wir, wo Kompetenzen liegen, was die Leute gerne machen. Sie können sich entweder bestehenden Projekten anschließen oder eigene starten. Uns ist wichtig, dass Leute aus Eigeninitiative und mit Unterstützung des Netzwerks innerhalb des Vereins selbstwirksam werden können. Monatlich treffen wir uns und planen den kommenden Monat. Das basiert eigentlich komplett auf den Ideen der Ehrenamtlichen. Die Entscheidungen lassen wir sehr frei. Die Meisten lieben es halt zu kochen, das passt dann sehr gut zu uns.” Was Tarek so besonders an Essen liebt? Das Potential, frei und kreativ die eigene kulinarische Identität auszudrücken. Seine eigene bewegt sich irgendwo zwischen afghanischen und, wie er sagt “altägyptischen” Gerichten, an Nationalgrenzen lässt sich sie sich nicht festmachen, aber schmecken kann man sie eben. “Einer unserer Mitglieder hat zu einem Event Kartoffelsalat mit pakistanischen Einflüssen gemacht. Geboren ist er in Pakistan, Teil seiner Heimat aber ist das Kartoffelsalatland Deutschland geworden.”

“Das gemeinsame Kochen gibt auch ein Element von “Gemeinsam etwas schaffen”. Bei Events, wenn sich Leute erstmal nicht kennen, da hilft ein Brettchen und eine Aufgabe, an der man sich erstmal festhalten kann. Dann hat man vielleicht einen Nachbarn, der neben einem schnibbelt und dann kann man sich schon mal darüber unterhalten, was Oma und Opa so gekocht haben.” sagt Ina. “Es wird nicht nur Essen gekocht, sondern auch Themen.” sagt Tarek. “So verstehe ich das Konzept.”

In mittlerweile mehr als 40 Städten in Deutschland erschaffen Ehrenamtliche Räume der Begegnung, mit oder durch Essen. Wenn Du den Verein mit Deiner Zeit oder Spenden unterstützen möchtest, dann findest Du hier weitere Informationen. Wer Lust hat, sich zu engagieren, ist jederzeit herzlich willkommen!