Markthalle ist Chefinnensache!
Da kommt sie in bunten Stoffen angeradelt. Weit hat sie’s ja nicht. Frau Nachbarin ist jetzt Geschäftsführerin – und in der Markthalle Neun schon lange keine Unbekannte. Wir sprechen von Olga Graf.
Im Altai-Gebirge in Sibirien, im niedersächsischen Gifhorn und am Görli in Kreuzberg zuhause – im elterlichen Lebensmitteleinzelhandel, im Innovationsmanagement und der Gemeinschaftsgastronomie gelernt – und all das mit in die Halle gebracht. Eine Idealbesetzung.
"Bei uns war es selbstverständlich, mitanzupacken – und danach gab’s immer was Leckeres auf den Tisch. Das verbindet. Vielleicht hat mich genau das geprägt: Arbeit und Essen gehören zusammen – und am besten macht man beides in guter Gesellschaft.“
Wenn man Olga bei uns in der Halle trifft, ist sie meist schon längst bei der Arbeit. Mit konzentriertem Blick, schnellem Schritt und einer To-do-Liste im Kopf, die nicht zu unterschätzen ist. Sie ist die, die die Übersicht behält, wenn es trubelig wird. Die, die nicht lange redet, sondern mit klarem Ziel vor Augen macht. Und die, die trotzdem immer bei bester Laune ist. Die Markthalle ist jetzt Chefinnensache.
Dabei beginnt Olgas Geschichte weit weg von Berlin. In einem kleinen Dorf in der sibirischen Altai-Region, wo es im Winter auch mal minus 40 Grad hat, das Essen selbst erzeugt und mit Nachbarn getauscht wird und wo alle mit anpacken müssen – spätestens, wenn die Waldbeeren- oder Pilzsaison anklopft. "Bei uns war es selbstverständlich, mitanzupacken – und danach gab’s immer was Leckeres auf den Tisch. Das verbindet", sagt Olga. "Vielleicht hat mich genau das geprägt: Arbeit und Essen gehören zusammen – und am besten macht man beides in guter Gesellschaft.“ Ihre Mutter ist damals Schneiderin und Besitzerin eines eigenen Betriebs, der Vater Genossenschaftsleiter. Wenn es ums Machen geht, war Olga von Klein auf immer mittendrin. Ob bei Hofinspektionen des Vaters oder Knöpfe sortierend in der Schneiderei.
„Ich hab' buchstäblich mit dem Etikettiergerät schreiben gelernt und früh verstanden, wie viel Hingabe im Lebensmitteleinzelhandel steckt.“
1994 dann: Rückkehr als Spätaussiedler*innen und Neustart in Deutschland. Der Vater erst im Sägewerk, dann ein eigener kleiner Lebensmittelladen, später die Eröffnung des GUM – benannt nach dem großen Warenhaus in Moskau: Ein Vollsortiment-Supermarkt mit zahllosen slawischen Produkten – von Kwas bis Sprotten, von eingelegten Pilzen bis Tworog. Die Nachfrage war riesig, der Laden wuchs und so kam zuletzt ein eigener Großhandel dazu. Mit direktem Draht zu Produzent*innen und Landwirt*innen, von Niedersachsen über Polen bis Griechenland.
Olga war auch hier von Anfang an mittendrin. „Ich hab' buchstäblich mit dem Etikettiergerät schreiben gelernt und früh verstanden, wie viel Hingabe im Lebensmitteleinzelhandel steckt.“ Für sie war der Laden der Eltern mehr als ein Arbeitsplatz – er war Schule, Sozialraum und Lernort für alles, was später noch kommen sollte. Erst an der Waage und mit Etikettiergerät in der Hand, später mit Schlüsselgewalt und Büroverantwortung. Preise auszeichnen, Regale einräumen, die Frischetheke mitbetreuen – Fleisch, Fisch, Hausgemachtes. Letzteres nach Rezepten ihrer Tante, die übrigens bis heute in jenem Supermarkt – und immer noch nach den gleichen Rezepten arbeitet: Hering im Pelzmantel, Olivje-Salat, eingelegte Dillgurken, hausgemachte Krautsalate oder Cholodez (Sülze). Zum Ende ihres Abiturs hat Olga die Eltern im Laden vertreten, Bestellungen ausgelöst, Kasse gemacht, Überweisungen erledigt. Die ganze Palette.
"Ich wollte nicht am Schreibtisch über Ernährung reden. Ich wollte dahin, wo sie gemacht wird – in den Küchen, auf den Feldern, mitten im Leben."
2012 wurde der Laden verkauft, für Olga ging’s weiter – erst quer durch Europa, dann ein Studium im Produkt- und Servicedesign, Auslandssemester in China, Indien und Südafrika, Stationen im Innovationsmanagement und in der Unternehmensberatung. Schließlich führte sie ihr Weg dorthin, wo sich Küche, Kultur und Politik begegnen: zu Projekten wie Kantine Zukunft von Speiseräume - einem Büro für angewandte Ernährungspolitik. "Ich wollte nicht am Schreibtisch über Ernährung reden. Ich wollte dahin, wo sie gemacht wird – in den Küchen, auf den Feldern, mitten im Leben." Dort besuchte sie Agrarausschüsse, verhandelte Förderungen und setzte sich für eine bessere Gemeinschaftsverpflegung ein – nicht aus der Distanz, sondern mit Blick für die Realität auf dem Acker und in der Küche. Brandenburgs Landwirtschaft, Berlins Großküchen – Olga kennt beide Seiten.
Aber wie ist sie denn nun hierhergekommen? Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei – und manchmal auch einen Anfang. Beim von der Markthalle Neun ausgerichteten Stadt Land Food-Festival 2018 zum Beispiel. Damals organisierte Olga das Butcher’s Manifesto – ein internationales Netzwerk für handwerkliche Metzgereien, das sich für Transparenz, Tierwohl und Respekt entlang der gesamten Wertschöpfungskette einsetzt. In der Halle brachte sie Metzger*innen, Landwirtschaft und Verbraucher*innen zusammen. Ein gemeinsames Verständnis von Qualität, Verantwortung und echtem Miteinander verbindet – und die Freundschaft zur Markthalle wächst.
"Ankommen musste ich nicht mehr – die Halle war längst ein Stück Zuhause. Jetzt darf ich sie in führender Rolle und großer Verantwortung weiterdenken."
Seitdem ist Olga aus der Halle nicht mehr wegzudenken. In ihrer Zeit als Unternehmensberaterin hat sie das Markthallen-Team im Hintergrund bereits tatkräftig unterstützt und in der Organisations- und Prozessentwicklung begleitet. Auch deshalb kennt sie jede Ecke, liest sich durch jede Excel-Tabelle und denkt bei jeder Idee mit – selbst wenn sie auf Käsepapier gekritzelt wurde. "Ankommen musste ich nicht mehr – die Halle war längst ein Stück Zuhause. Jetzt darf ich sie in führender Rolle und großer Verantwortung weiterdenken." Sie liebt gute Gespräche, große Gedanken und klare Strukturen. Und vor allem glaubt sie an eines: dass es gemeinsam besser geht.
Seit diesem Frühjahr ist Olga nun Geschäftsführerin der Markthalle Neun. Und tritt damit die Nachfolge der drei bisherigen Geschäftsführer Florian, Bernd und Nikolaus an, die die Halle 2011 von der Stadt Berlin übernommen und Hand in Hand mit der Marktgemeinschaft zu dem gemacht haben, was sie heute ist. “Nach 15 Jahren, in denen wir diese Halle wiederbelebt, mit ihr gelebt und unsere Herzen an sie verloren haben, ist jetzt der richtige Moment. Olga übernimmt mit einem Team, das seit Jahren eingespielt ist – klug, verlässlich, voller Haltung und wahnsinnig viel Freude an der Arbeit. Es ist ein bisschen wie bei einem guten Sauerteig: Wir haben ihn lange gepflegt und genährt – jetzt geht er in neue Hände, die wissen, wie man ihn weiterführt. Und was noch alles daraus entstehen kann.” sagt Florian Niedermeier. Zu Dritt werden sie der Markthalle auch in Zukunft erhalten bleiben. Als aktive Gesellschafter und im Rahmen des neu gegründeten Beirats. Jetzt liegt die Führung bei Olga Graf – mit kühlem Kopf, klarem Kompass und einem feinen Gespür für das, was diesen Ort besonders macht. Für die Marktgemeinschaft. Für den Kiez. Für neue Ideen. Für Dinge, die wachsen dürfen. Und für solche, die sich vielleicht auch mal verändern müssen, damit dien Markthalle lebendig bleibt.
“Ich glaube fest daran, dass lebendige Märkte Städte lebenswerter machen. Dass analoge Orte wie dieser – wo sich Menschen ums Essen als Gemeinschaft versammeln, Ideen austauschen und Verantwortung teilen – heute wichtiger sind denn je. Vielleicht sogar als Orte gelebter Demokratie.“
Wofür sie angetreten ist? Für etwas, das selten geworden ist: einen öffentlichen Ort, der nicht beliebig ist. Einen Raum, in dem wirtschaftliches Handeln und gesellschaftliche Verantwortung kein Widerspruch sind. Olga sagt es so: “Ich glaube fest daran, dass lebendige Märkte Städte lebenswerter machen. Dass analoge Orte wie dieser – wo sich Menschen ums Essen als Gemeinschaft versammeln, Ideen austauschen und Verantwortung teilen – heute wichtiger sind denn je. Vielleicht sogar als Orte gelebter Demokratie.“ Für eine Stadt also, in der Essen nicht nur auf den Teller gehört, sondern ins Zentrum des Denkens. Für einen Markt, der mehr kann als handeln – nämlich verbinden, bewegen, verändern.
Für das, was die Halle schon heute ist: ein echter Marktplatz. Mehr als ein Handelsort – ein Ort für Produktion und Bildung, Knotenpunkt für Handwerk und Kultur. Treffpunkt für Viele, im historischen Denkmal in Berlin-Kreuzberg. Ein Ort, der bleibt. Und weitergedacht wird.